Bis heute wird der Aspekt der aktiven Sicherheit bei der hier untersuchten Unfallart fast immer unter der Überschrift des "toten Winkels" behandelt. Landläufig wird darunter die Lücke zwischen dem Bereich verstanden, der direkt durch das Fenster erkannt werden kann und dem, der indirekt im Spiegel beim Blick nach rechts hinten sichtbar ist. Diese Einengung setzt jedoch den falschen Schwerpunkt. Zum einen wird der klassische "tote Winkel" bereits durch den Weitwinkelspiegel stark vermindert.
Zum anderen ist gar nicht der Bereich rechts hinter dem Lkw, sondern der rechts vorne besonders problematisch. In der Tat ist dieser Bereich auch bei heutigen Lkw, wie im übrigen der gesamte Nahbereich vor der Front, ein blinder Fleck. Der Rampenspiegel kann allenfalls einen kleinen Teil abdecken. So zeigt denn auch die Analyse des Unfallgeschehens, dass der Erstanstoß in über 40 % der Fälle vorn rechts stattfindet.
In der Vergangenheit wurden bereits verschiedene Vorschläge erarbeitet, wie der Problembereich rechts vorne entschärft werden kann. Viele davon sind im Prinzip preiswert zu verwirklichen.
Alle Systeme, welche die Sicht aus Lkw durch zusätzliche Spiegel oder auch Video-Kameras etc. verbessern, haben jedoch eine prinzipielle Schwäche: Sie setzen voraus, dass der Lkw-Fahrer sie auch benutzt. Erfahrungen der forensischen Unfallanalyse zeigen, dass in den meisten Fällen der Lkw Fahrer den ungeschützten Verkehrsteilnehmer auch mit den vorhandenen Möglichkeiten direkter und indirekter Sicht zumindest zu irgendeinem Zeitpunkt hätte wahrnehmen können. Meist ist es ja ohnehin so, dass der später verunglückte Radfahrer kurz zuvor vom Lkw überholt worden war. Der Fahrer hätte sich folglich vergewissern müssen, wo der Radfahrer geblieben ist, bevor er abzubiegen beginnt.
Obwohl auch die Sicht aus Lkw mit Sicherheit verbesserungswürdig ist, liegt hier offensichtlich nicht das Kernproblem. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Lkw-Fahrer in der konkreten Situation des Rechtsabbiegens häufig überfordert sind. Ein Lkw-Fahrer, der an einer belebten und möglicherweise eng gestalteten großstädtischen Kreuzung, mit einem schweren Sattelzug rechts abbiegt, kann sich gar nicht im erforderlichen Maß auf die mögliche Gefahr konzentrieren, die er für Radfahrer und Fußgänger rechts neben und rechts vor seinem Fahrzeug darstellt. Er muss beim Abbiegen ebenso die linke Seite seines Fahrzeugs beobachten und natürlich den Verkehrsraum vor ihm. Passive Systeme, die lediglich die Sichtmöglichkeiten verbessern, können hier nur wenig helfen.
Die erweiterten Möglichkeiten der Elektronik haben es nunmehr erlaubt, stattdessen aktive Warnsysteme zu entwickeln, welche das Auftauchen eines ungeschützten Verkehrsteilnehmers detektieren und den Fahrer (etwa durch ein akustisches Signal) davor warnen. Auf Einzelheiten dieser Systeme soll im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden. Auf jeden Fall aber ist der Einsatz aktiver Warnsysteme der beste Weg zur Entschärfung dieser Unfallsituation.
Das beste aktive System bleibt allerdings ein entsprechend geschulter Beifahrer, der den Fahrer in kritischen Situationen entlasten kann und die Bereiche beobachtet, die von der Fahrerposition schwer zu sehen sind.
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